🍀Etappe III – Ökumenischer Pilgerweg ( Leipzig-Erfurt )

Geh deinen Weg und lass die Leute reden.

– Dante Alighieri –

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Von Leipzig nach Erfurt ? Zu Fuß ? Nee oder? Innerliches wie äußerliches Kopfschütteln ist die häufigste Reaktionen derer, denen ich mein Vorhaben erzähle. Wie, und dann noch mit dem Zelt?  Die Familie schwankt zwischen: „Cool! , Viel Spaß. , …ich könnte das nicht… , Warum willst du schon wieder weg?“ und  „Komm ja wieder!“ .

Eine Freundin nimmt mich mit bis Engelsdorf. Diesmal mit leichtem Gepäck beladen, sieht es nicht mehr ganz so krass nach Expedition aus. Kleiner, leichter Rucksack, leichte Schuhe, nur das nötigste auf dem Rücken. So ziehe ich los. Grau bis bunt gefärbte, geometrisch modern bis langweilig gestaltete Industrie – und Gewerbezweckbauten wechseln sich ab mit Kleingartenidylle und alter Bausubstanz aus Zeiten, wo ein Gebäude neben der Funktion auch noch schön aussehen durfte. Abblätternde Fassaden oder zerschossene Fenster und bröckelnde Mauern empfindet man dabei nicht einmal als störend. Die meisten Gebäude strahlen doch trotz ihrer viele Jahrzehnte dauernden Existenz eine Würde aus, die den meisten noch so stylischen Modernitäten eben fehlt.

Laternenmasten ziehen gleichmütig vorbei, Ihre Rümpfe sind mit Stickern und Tags beladen, die um Aufmerksamkeit buhlen, Zonen markieren oder ihre Massage dem geneigten Passanten entgegenschreien. Wie das Viertel wirklich tickt, vermag ein „NS-Area“ oder „Antifa – Zone“ – Aufkleber vielleicht nicht zu offenbaren, Tendenzen erkennt man aber mit ein wenig Fantasie schon.

 

 

Im Laufen nehme ich die Atmosphäre in mich auf, manches kaputte Fenster gewährt Blicke ins Innere alter Werkhallen.

Eisenbahnstraße – ein bekanntes Viertel. Überall wuseln Menschen aller Farben umher. Wortfetzen wehen aus den vielen kleinen , vollbesetzten Restaurants über die Straße und verhallen im Häusermeer. Jugendliche sitzen vor einem weit geöffneten Fenster auf dem Gehweg und unterhalten sich . Über ihnen weht aus dem Obergeschoss eine rote Fahne mit daraufgesprühtem Spruch. Mich zieht das offene Fenster an, denn dahinter summt eine Softeismaschine. Die Jungs und Mädels grüßen freundlich und rücken ein Stück beiseite, damit ich meinen Wunsch, “ Ein großes, bitte ! “ den Fensterinsassinnen vortragen kann. Dem wird gegen kleine Münze gern entsprochen und lachend verabschieden wir uns wieder.

Der Sog des Stadtkerns nimmt nun zu. „Leipzig! Da muß man durch.“ flackert als Slogan irgendwo im Hinterkopf auf. Es scheint ein uralter Satz zu sein, der noch von der via regia in ihrer Blütezeit als große Handelsroute stammt. Vom Reichtum und der Bedeutung dieser Stadt damals wie heute zeugen viele der Bauten und Plätze. So schnoddrig, schmuddelig, trostlos, aber auch alternativ schön und anders sich die Außenbezirke dem Ankömmling entgegenwerfen, so rein, saniert, perfekt gestyled und edel will und weiß das Zentrum zu gefallen. Optische wie akustische, an so mancher Ecke auch olfaktorische Reize aus den multiethnischen Kochtöpfen der Restaurants, den Flakons der Parfümerien oder den Stoffen der Modegeschäfte überfluten den Kopf und manchmal wünscht man sich, gerade angekommen, dem emsigen Getummel der City auch schon wieder entkommen zu können und mit ein paar Sprayern in einem verlassenen Lokschuppen zu chillen. Oder man sehnt sich die Natur herbei.

Wunsch ist Wunsch. Keine Meile vom Mittelpunkt entfernt stemmen sich Bäume zwischen die Fassaden, das Gelände wird weiter und große Grünflächen kommen zum Vorschein.  Hier spielen die Kids, Pärchen liegen herum, die Drahtesel warten, an Bäume gelümmelt faul auf die Rückkehr ihrer Besitzer. Im Hintergrund hört man die exotischen Geräusche des Zoos. Das fühlt sich schon besser an, nicht nur anders.

Eine Nachricht bringt erfreuliche Neuigkeiten.  Freunde sind gerade von einer Fahrradreise zurück und in der Nähe. 15 Minuten später gibt es ein fröhliches Wiedersehen und wir kehren im Mückenschlößchen zu lecker Eis und Kaffee ein. Es gibt einiges zu erzählen und die Zeit spielt keine Rolle mehr.

Frisch gestärkt und voller schöner Gedanken lege ich noch einige Kilometer zurück, weiter hinaus aus der Stadt. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit spanne ich auf einem abgeweideten Stück der Uferzone des kleinen Flüsschens „Neue Luppe“ das Tarp auf. Mücken und Schafköttel gibts reichlich, doch das ficht mich heute nicht mehr an. Ich bin nach über 24 km etwas pflastermüde und so kommt der Schlaf recht schnell und intensiv.

 


Der Objektivdeckel wird mir heute entwischen. Davon ahne ich noch nichts, als ich im Morgengrauen die Augen öffne. Für die so frühe Stunde ist schon reger Verkehr auf dem Deich. LED – Strahl bewaffnete Fahrradfahrer saugt es in Richtung Stadt. Hundeläufer gewähren ihren Lieblingen und sich selbst noch den nötigen Auslauf, um eventuell dann den restlichen Tag im Hundezwinger oder dessen Äquivalent in der Menschenwelt ( Büroturm ) zu überstehen. Wenn mich einer bemerkt, grüße ich freundlich und bekomme einen verwundert – freundlichen Gruß zurück. Schnell ist der Kocher am Start und ich nutze die 2 min bis das Wasser kocht, zur Vorbereitung eines kleinen Frühstücks. Im angrenzenden Wald stimmen sich die Vögel schon auf das Morgenkonzert ein und bieten eine vielstimmige Hintergrundbeschallung.

Der Morgen ist noch frisch. Das möchte ich nutzen, denn wirkliche Abkühlung ist heute nicht in Sicht. So sind meine paar Habseligkeiten schnell gepackt und die Füße streben vorwärts. Ein nächster für Pilger interessanter Punkt ist das Örtchen Kleinliebenau. Dort gibt es neben der kleinen Rittergutskirche eine Pilgerherberge. Alles ist hübsch zurecht gemacht und man sieht das Engagement der Menschen für den Weg.

Ein großer Dank an dieser Stelle einmal an alle, die den Weg und die Beschilderung pflegen, Unterkünfte bereit stellen oder auch nur in der größten Mittagsglut ein Glas Wasser über den Zaun reichen oder ein freundliches Wort übrig haben. Damit, finde ich, verdient sich der ökumenische Pilgerweg das Prädikat „besonders wertvoll“ !

Schon beizeiten dringt ein nicht unbekanntes monotones Rauschen zu mir durch. Ein Blick auf die Karte verrät den Verursacher. Hier muß man die A9 kreuzen. Trotz der Lautstärke fühlt man sich, auf der Brücke stehend, der sich unter einem durchwälzenden Blechlawine überlegen. Frei die Richtung wählen zu dürfen, hat  schon was. Frei, langsam unterwegs sein zu dürfen, so langsam, daß man im Gehen die Löwenzahnpflanzen zählen kann! Ein wenig träume ich so dahin und erschrecke, als mich freudig grüßend ein Mann auf dem Fahrrad überholt. Kurze Zeit später treffen wir uns auf dem kleinen Friedhof vor der Kirche Horburg – Maßlau wieder. Auch er weiß viel vom Weg zu berichten, ist er doch auch schon gepilgert.

Den nächsten Stempel erbitte ich mir im großen Gebäudekomplex einer Stiftung, die sich um behinderte Menschen kümmert, sie beherbergt und Beschäftigung anbietet. Dazu störe ich zwei junge Mädels, die zur Kaffeepause plaudernd in der Sonne vor dem Haus sitzen. Eine nimmt sich meiner hilfsbereit an, führt mich quer übers Gelände in ein Gebäude und übergibt mich der Sekretärin. Danke! Fröhlich wird mir der Stempel in den Ausweis gedrückt. „Sie haben doch bestimmt Durst und Hunger? Kommen Sie mal mit! Hier gibt es nämlich ein Pilgerfrühstück“ . Erstaunt folge ich der netten Dame in die Küche, sie stellt mich dem Koch vor und überläßt mich, nicht ohne mir eine gute Weiterreise zu wünschen, seinen Künsten. Ich darf mir aussuchen, was ich will. Meine Wahl fällt auf jede Menge frische Früchte, Orangensaft und ein Brötchen. Er stellt mir einen mit Liebe zubereiteten Teller hin und wünscht mir guten Appetit. Bald füllt sich der Speisesaal . Es scheint Pause zu sein. Ein lustiges Durcheinander von Rollstuhlfahrern und anderen behinderten jungen und älteren Menschen beginnt. Alle scheinen sich zu kennen und begrüßen sich überschwänglich. DER NEUE da am Tisch mit dem Rucksack und dem durchgeschwitzten Nicki wird natürlich gleich erkannt und beäugt. Ein Mädchen mit Down – Syndrom kommt sogar an meinen Tisch und reicht mir lächelnd die Hand zu einem fröhlichen „Guten Morgen.“, als würden wir uns schon lange kennen. Schön! Ich bezahle 2 € und verabschiede mich in Dankbarkeit.

Diese Begegnung gibt mir neue Kraft und so ertappe ich mich – wiedermal – tief in Gedanken durch die Gegend streifend, doch der Weg verzeiht diese Unachtsamkeit und so bleibe ich auf Kurs. Anders der Objektivdeckel. Er hat den Moment genutzt, und mich still und leise irgendwo verlassen. Da kann man sich ärgern, herbei kommt das Plastikteil dadurch auch nicht wieder. Also bleibt der Verdruß kurz und vergeht bald wieder.

Eine andere Art des Verdrußes wartet jedoch schon. Kurz vor Antritt der Fahrt hatte ich, höchstwahrscheinlich in einem masochistisch angehauchten Anflug geistiger Umnachtung, neue Wanderschuhe gekauft. Wunderbar weich, leicht trotz ordentlicher Sohle, Leder, super Passform und sofort angenehm am Fuß. Nach ca 10 Minuten im Laden war der Kauf besiegelt. Damit kann dir nichts passieren. Dachte ich! Doch langsam machen sich die ersten Zweifel breit, denn ein leichter Druck, den die Gehfalte bei jedem Schritt auf die kleine Zehe ausübt entwickelt sich von …kaum wahrnehmbar über …das muß sich noch einlaufen und …Mensch! Jetzt auch die andere Seite?… bis hin zu einem verdammt nervigen Problem. Die sonst mitgeschleppten Sandalen, so dachte ich, brauche ich diesmal, mit diesen schönen leichten Schuhen nicht. Weit gefehlt! Ich lege über beide Zehen ein Stück  rund gebogene Pappe aus dem Rest einer Heftpflasterrolle und fixiere das Meisterwerk mit Pflaster. Die ersten Gehversuche fühlen sich vielversprechend an. Ja, so wird es gehen.

Mittlerweile steht Frau Sonne hoch und gibt ihr Bestes. Am Wallendorfer See hat sie mich endgültig soweit, eine weitere Pause einzulegen. Es gibt hier diesen Badestrand  und Oma plus Enkeltochter genießen bereits das kühle Naß. Ich kann nicht anders! Gleich in Klamotten nutze ich die Gelegenheit zur Abkühlung. Eine Runde schwimmen und wieder raus, Füße trocknen, Rucksack geschnappt, einen Riegel in die Hand und weiter gehts. Der Trick mit den nassen Sachen auf der Haut funktioniert auch heute und schützt mich vor Überhitzung .

 

Bis zum nächsten Halt in Merseburg bin ich wieder vollständig durchgetrocknet. Durst plagt mich und so biege ich gleich bei der ersten Tankstelle ab, fülle Wasser auf und genehmige mir eine kalte Vanillemilch, die ich im Schatten sitzend genußvoll leere. Jetzt bin ich bereit für dich, du geschichtsträchtige, sagenumwobene Stadt. Die Neumarktkirche, sonst beliebte Pilgerherberge und Highlight der Pelegrinos, weil man auf der Empore übernachten kann, ist leider wegen Bauarbeiten geschlossen. So führt mich die Neumarktbrücke über die Saale. Von hier hat man diesen besonderen Blick auf  Dom und Schloß.

Geschichtsinteressierten Menschen sei unbedingt ein längerer Aufenthalt in Merseburg ans Herz gelegt. Besonders in der Altstadt scheint jeder Stein voller Erzählungen aus alten Tagen zu sein .

Im Dom! Es ist einer der Höhepunkte aller Etappen und es genügt nur ein Wort ihn zu beschreiben. STILLE! Kaum einmal hatte ich ein so überwältigendes Gefühl.

– Leipzig; laut, busy, Dreck & Glamour… hier der Dom; Stille, Wunder, Balsam, eine Kerze, ein dankbarer Pilger. –

 

Wieder draußen, gelingt mir die Orientierung nicht gleich und so laufe ich in ziemlichem Zick Zack durch die Gassen. In einem Buchladen kaufe ich Francois Lelords Buch über die Freundschaft. In einem ziemlich versteckten Schuhgeschäft finde ich zwar keine Linderung meines Leidens, aber ein langes Gespräch über Landwirtschaft auf einem super bequemen Sofa. Am vorderen Gotthardsteich ist eine Holzbrücke gesperrt. Ohne lang zu überlegen balanciere ich über den nicht sehr steilen, einen Fuß breiten Bogen auf die andere Seite. Vielleicht gibts hier ein Sanitätshaus oder Schuhgeschäft. Nach kurzer Befragung einiger Passanten finde ich 5 vor 6 den Laden. Ich werde sogleich platziert und erstmal mit Wasser versorgt, der Schuster ist lustig und sehr nett und weitet mir die Stellen, so gut es eben in der kurzen Zeit geht. „Nichts! Aber schreib uns mal ne Karte von unterwegs.“ ist seine verblüffende Antwort auf die Frage nach meiner Schuldigkeit. Darüber hinaus schenkt er mir noch ein Spray, das ich zum weich machen und weiten noch unterwegs verwenden kann.  Völlig beglückt verabschiede ich mich. Etwas abgelegen, am Rande der Stadt, komme ich am Deutschen Chemiemuseum vorbei, bevor es ganz plötzlich ins Unterholz geht. Der Weg ist schmal, dunkel, wenig gepflegt und riecht nach Abenteuer.

Zscherben, der nächste kleine Ort nur 2 Minuten vom Wege ab, hat einen funktionierenden Dorfbrunnen. Man muß kräftig den Schwengel betätigen. Anfangs kommt nur heißes Rostwasser, doch nach einiger Zeit klart es auf, wird kalt und trinkbar. Schnell sind die Vorräte aufgefüllt. Wie lange mich die Beine heut noch tragen, wird sich zeigen. Auf der 2 km schnurgerade der Sonne entgegen führenden Betonstraße scheinen die Schritte kaum auch Fortschritte zu sein, das nächste Dorf kommt einfach nicht näher. In der Ferne tanzen die Fackel von Leuna, ein Schornstein und ein Kirchturm umeinander herum. Es ist immer wieder erstaunlich, wie sich die Landschaft im Gehen dreht. Bald reihen sich die drei Kerle nebeneinander auf. Der Dünne mit rot flammendem Haar neben dem Schweigsamen, als drittes der Dicke mit der schönen Stimme.

 

Über 30 km und mehr als 50000 Schritte fordern nun doch recht vehemment, zum Ende der heutigen Etappe zu kommen. Nur noch über die A 38 und durch eine Kleingartensiedlung mit niedlichen Sitzgelegenheiten für Wanderer. Dann noch ein paar Meter durchs Unterholz und Schloß Frankleben taucht hinter den Bäumen auf. Hier irgendwo muß eine Herberge sein. Etwas nachdenklich stehe ich vor dem imposanten Gebäude, als ein Herr sich aus dem Fenster lehnt und fragt, wie es mir geht. „Danke, gut… naja die Füße tun weh und eigentlich will ich zur Herberge oder hier irgendwo mein Tarp aufschlagen. Wissen Sie, wo man hier Infos bekommt?“. Der Mann lacht: „Bei mir natürlich.“

Er zeigt mir Herberge, Küche, Dusche und Toilette. Alles da, was für ein Komfort. Urig, gemütlich ist es hier. „Sprechen Sie Englisch?“ , fragt er. Als ich bejahe, stellt er mir meinen Zimmergenossen für die Nacht vor. Der polnische Pilger ist hoch erfreut, sich mal mit jemandem unterhalten zu könen. Er ist in Warschau direkt an seiner Haustür gestartet und möchte bis Santiago gehen. Zirka 800 km hat er schon hinter sich gebracht.  Ich darf mir einen Schlafpaltz aussuchen. Schon beim auspacken wird viel und fröhlich erzählt. Auch ich freue mich sehr darüber, seine Geschichten zu hören. Wir essen zusammen draußen auf der Wiese. Dabei werden Erlebnisse und Gedanken ausgetauscht und einer hört dem anderen gebannt zu. So bricht die Nacht über uns herein. Er möchte morgen sehr früh aufbrechen, der Hitze wegen. Schnell hüpfe ich noch unter die Dusche und wasche mir den Staub des Tages vom Körper. Eine Wohltat. Im Dunkeln werden noch ein paar Worte gewechselt. Vielleicht sehen wir uns morgen nochmal. Gute Nacht!

 

„Bye, all the best to you.“. Der Morgen lugt gerade durchs Fenster hinein, als er den Raum leise verläßt. Ein paar Minuten hält es mich noch im Bett, dann beginne auch den Tag. Im wohligen Dunkel des Raumes genieße ich meinen heißen IM NU, lese einen interessanten Artikel über das Schloß und dessen Geschichte und werde so langsam wach.

Danke für die Rastmöglichkeit an diesem wundervollen Platz!

Der Weg nimmt mich wieder auf. Es hätte ab Merseburg eine weitere Variante gegeben, welche,um den Geiseltalsee geführt, einen deutlichen Umweg dargestellt hätte. Hier verschmelzen nun beide Stränge wieder und zeigen gen Freyburg. Ich wandere einen Halbkreis um den Runstädter See, eingeklemmt zwischen Eisenbahnlinie, Hauptverkehrsstraße und zwei großen Seen. Dann geht es wieder durch die Felder. Aus der Ferne suche ich einen Punkt im Schatten großer Bäume. Dort beginnt ein größeres Waldstück. Gefühlt vergehen Stunden bis dieser Punkt endlich beginnt näher zu rücken. Meine Zehen schmerzen nun wieder deutlich und ich laufe in ein mentales Tiefdruckgebiet hinein. Mit letzter Willenskraft schleppe ich mich in den Schatten, breite die Matratze aus, lasse mich fallen und verordne mir eine lange Pause mit allen Annehmlichkeiten, die im Angebot sind. Viel Wasser, eine ganze Tafel Rum – Traube – Nuß, einen Riegel und den Füßen viel Luft zum abkühlen. Ein ganz zarter, angenehm kühler Lufthauch vom Walde her holt mich aus der roten Zone. Mit geschlossenen Augen horche ich in mich hinein und spüre, wie sich alles beruhigt. Ein französisches Lied kommt immer näher. Es klingt fröhlich. Ich blinzle und sehe im Augenwinkel zwei Fahrräder um die Waldecke biegen. Ein junger Mann singt aus voller Kehle, verstummt jedoch , als er mich gewahr wird. Das Mädchen lacht. „Wir dachten wir sind allein.“ Sie wollen zum See hinüber. Wir erzählen kurz und schon schwingen sich die beiden wieder in die Sättel . „Singt ruhig weiter, es klang schön!“

 

Diese fröhliche Begegnung hilft auch mir wieder zuverlässig auf die Beine. Nun geht es eine ganze Weile durch den Wald. Angenehm ist es im Schatten. Zwischen dicken Bäumen ragt ein gespanntes, rotes Segeltuch hervor. Grobe Holzbänke und ein kleiner Altar. Meine Schuhe ärgen mich und ich nutze die Chance, um kurz Rast zu machen. Vielleicht werden hier Waldgottesdienste abgehalten. Als ich Blumen an manchen der Riesen stehen sehe, wird mir klar, das muß ein Friedwald sein. Diese Art einer Stätte des letzten Gedenkens ist nicht so verbreitet, wenn ich aber darüber nachsinne, so ist es mir eine angenehme Vorstellung, dort im Schutze dicker Wurzeln meine Ruhe zu finden.

Auf der Karte ist Freyburg nur noch einen Daumen breit entfernt. Der wunderbare Blick über die Weinberge ins Tal und auf die Stadt offenbart aber auch, daß es jetzt gleich steil abwärts geht. Vorfreude auf noch mehr schmerzende Zehen blitzt auf. Seit Merseburg habe ich nun reichlich Tape dabei und versuche auch verschiedenste Schnürtechniken, mit mal mehr, mal weniger Erfolg. Den steilen, ausgewaschenen Weg hinunter läuft man zwar noch im Schatten, mühsam ist es dennoch. Aus dem Schutz des Blätterdaches tritt man wieder in die unbarmherzige Glut der Mittagssonne. Die Augen zugekniffen, suche ich eigentlich sofort wieder nach einem schattigen Fleck.

St. Maria bietet sich an und spendet trotz der hoch stehenden Sonne Schutz. Eine Frau sieht mich sitzen und ruft mir zu, daß sie gleich käme, die Kirche zu öffnen. Schnell entfliehen wir in die angenehme Kühle und Stille dieser wunderschönen Kirche. Während wir uns leise unterhalten, kommen immer wieder Besucher herein und schauen sich das Gotteshaus an. „Ein Stempel wäre noch schön“ . „Natürlich, gerne!“

Bei der Hitze sind nur wenige Passanten anzutreffen. Die Stadt ist wirklich wunderschön und hat eine reiche Geschichte, nicht nur rund um den Weinbau, zu bieten. Über 30°C im Schatten machen jedoch jede Motivation in Richtung Sightseeing zu nichte. Alles reduziert sich auf Schattensuche, Pausensuche, Wassersuche, Wegsuche. Die Kalksteinwände in und um die Weinberge speichern die Wärme und geben sie Nachts ab. Das gefällt den Rebstöcken gut. Sie werden es den Winzern danken. Dem Pilger jedoch auf seinem Weg wabern die Hitzewellen der aufgeladenen Blöcke entgegen und lähmen den Vorwärtstrieb.

Ich rette mich unter das schattige, von Wein umrankte Vordach eines Restaurants. „Ein Eis und einen großen Spezi bitte!“ , bekomme ich noch raus. Der Wirt ist recht kurz angebunden, will wissen welches Eis ich gerne hätte und rattert in 20 Sekunden sämtliche Eissorten herunter. Sogar die zwei Damen am Nebentisch unterbrechen kurz ihr Mittagsmahl. Vorsichtig präzisiere ich, der Schweiß läuft mir in Strömen vom Gesicht, meine Wahl. Danke!  Deutlich besser gelaunt wird die Bestellung dann geliefert… Da bin ich froh! Die Süßigkeit und das kalte Getränk bringen mich wieder ins Gleichgewicht. Auf der Toilette wende ich wieder das Wet – TShirt – System an und überlasse mich nach der Bezahlung meiner Einkehr wieder dem Weg. Von Weitem tauchen wie eine Fata Morgana die Domspitzen von Naumburg  aus der Umgebung hervor. Ein Blick zurück breitet ein letzes Mal das Panorama der Weinberge vor mir aus.

 

Ob ich die Stadt heute wohl noch erreiche? Mit solchen schmerzenden Füßen? Mittlerweile nennt jede der kleinen Zehen ein Prachtstück von einer Blase ihr Eigen und ein wenig bricht sich die Verzweiflung Bahn. Die Pausen werden immer häufiger. Unter einem Apfelbaum komme ich mal wieder zum Sitzen. Schuhe aus, Socken aus, einen Apfel gekrallt. Ich stiere so vor mich hin und überlege, die vermaledeiten Schuhe hier einfach ins Geäst zu schmeißen und barfuß weiter zu gehen. Das ist natürlich eine doofe Idee.

Moment mal, ich hab zwar keine Sandalen mit, aber vielleicht kann man ja in Naumburg ….. ?! Plötzlich geht alles ganz schnell. Die Habseligkeiten werden hastig zusammengerafft. Schuhe an und los, los, los!  Es sind ein paar Schritte bis Naumburg und mein Komfortbereich ist schon jetzt nicht mehr in Sicht! Im Stechschritt unter entsprechenden Schmerzen geht es gen Naumburg. Mobiltelefon sei Dank, finde ich heraus, daß es ein Sportgeschäft gibt, welches aber um 18:00 schließt. Das wird knapp! Ich haste ohne Blicke für den Weg mehr übrig zu haben an den Muscheln vorbei, setze am Zusammenfluß von Saale und Unstrut mit der handbetriebenen Fähre über, immer mindestens ein Auge auf der Uhr. Wo ist der Weg? Unruhe und wachsende Zweifel, ob ich es wirklich schaffen kann.  Die Stufen zur Stadt hoch! Die Füße! Noch 10 Minuten. Vorgärten fliegen viel zu langsam vorbei. Passanten schauen dem durchgeschwitzten, abgehetzten Etwas mit dem leicht humpelnden Schritt hinterher. Innenstadt! Noch 5 Minuten Eigentlich kann ich nicht mehr, aber das ist jetzt egal. Denn am Horizont winkt Erlösung. Das große Schild zieht mich magisch an.

„Guten Abend, meine Schuhe bringen mich um.“ Die Bardame bietet mir einen Platz an, läßt mich zu Atem kommen und zeigt Verständnis. Selbst 3 Minuten vor Schließung des Geschäfts nimmt sie sich freundlich, ja fast mitleidig meiner an. „Am besten irgendwelche leichten Sandalen mit super viel Platz.“ Sie zeigt in eine Ecke der Schuhabteilung. Wie ein Kind zur Bescherung entdecke ich voller Freude den riesigen Kartonstapel mit Keen – Sandalen. Der Zeremonie des  Schuhe ausziehens geht eine Entschuldigung meinerseits voraus, denn ich meine, die Socken befinden sich heute nicht mehr ganz im grünen Bereich. „Ach, wir sind hier so einiges gewohnt.“ Ein kurzer Augenkontakt zu ihrer Kollegin, zustimmendes Nicken und ein Lächeln der beiden beruhigen mich wieder. Sie erkennen meine Pein am Gesichtsausdruck. Die Füße sind ziemlich geschwollen, kein Wunder nach dieser Hochgeschwindigkeitsetappe. Erst bei Größe 47 (normal 44, Keen 45) bin ich zufrieden. Nichts drückt. Erleichterung macht sich in mir breit und verdrängt die mit den Kilometern immer mächtiger gewordene Anspannung. Fröhlich bezahle ich, mittlerweile weit nach 18 Uhr meinen Neuerwerb und behalte ihn auch gleich an. Die Folterdinger wandern zu unterst in den Rucksack. Die Frauen wünschen mir noch viel Glück, als ich den Laden wie auf Wolken verlasse. Auch die Apotheke nebenan hat noch geöffnet. Ich besorge Tape und bekomme, als die Kassiererin mich etwas genauer betrachtet noch ein Elektrolytgetränk spendiert, nein, eher verordnet. „Passen Sie bei der Hitze gut auf ihren Wasserhaushalt auf!“. Das ich das tun werde, verspreche ich.

Zurück auf der Fußgängermeile zielen meine ersten leichten Schritte zum wasserspeihenden Granitmonolith. Dort tummeln sich schon Fußballkids und machen sich frisch. Ich verpasse mir eine halbe Dusche und stehe triefend, erfrischt und glücklich zwischen den erstaunten Jungs. Als ich dann noch meine Faltflasche zücke, sprechen sie mich an und erzählen mir, daß das hier kein Trinkwasser ist. Sie ziehen mich auf den Markt herüber zu einem großen Brunnen mit einem klitzekleinen Brünnlein an der Seite. „Das können sie nehmen.“ Über ihre Frage, ob mir denn die Stadt gefiele, kann ich nur mit einem fröhlichen „Ja, Klar!“ und „Vor allem wegen der freundlichen Jungs!“ antworten. Sie sind begeistert und rennen lärmend davon.

Die Sandalen sind eine Wohltat. Ich vergesse ein wenig die Zeit, hole mir aus einem quietschebunten Geschäft Frozen Joghurt mit Gummibärchen und trödele langsam in Richtung Dom.

 

Er dominiert die Stadt mit seiner Ausstrahlung und ich bin ein wenig traurig, daß er schon geschlossen hat. Selbst einen Pilgerstempel bekomme ich nicht mehr von Naumburg. Die Stempelstelle hat bereits geschlossen. So sitze ich ratlos auf einer Bank herum. Ein Auto hält an, eine Frau steigt aus und fragt mich, ob ich Pilger sei und in die Herberge wolle. Nur den Stempel hätte ich gern. Sie telefoniert herum, kennt die Zuständigen, aber kann heute niemenden mehr dafür begeistern, sich nur wegen des Stempels für mich auf den Weg zu machen. Verständlich!

 

Vom Domhügel hinunter auf dem Bauernweg schlendernd bekomme ich die Nachricht, eine Freundin sei mit Erste Hilfe – Fußheilmitteln hierher unterwegs. Von Jena? Nur wegen der Blasen der weite Weg? Verrückt, Schön! Am Kreisverkehr treffen wir uns. Schon von weitem höre ich den charakteristischen Einzylinder  – Klang einer Sport – AWO aus dem Stimmengewirr der anderen Vehikel heraus. Freudig empfange ich meine „schnelle medizinische Hilfe auf zwei Rädern“. Sie bringt frische Blasenpflaster. Zum Ausgleich gibt es Köstlichkeiten aus meinem Rucksack (Clifbar – Energieriegel und Schokolade). So hängen wir eine Zeit lang auf dem Bordstein herum, erzählen und lachen. So fix wie sie gekommen war, ist sie auch schon wieder auf ihre alte Lady aufgesprungen. Es soll Regen und Gewitter geben und sie soll für ihre gute Tat doch nicht noch naß werden! Ich winke dankbar hinterher und sehe zu, wie Gefährt und Reiterin sich in den Feierabendverkehr einreihen, sich vermengen und auf und davon sind. Ab und zu noch hört man ein Auspuffbellen heraus.

Genug Stadt! Danke für alles! Aber nun wieder raus, aufs Land! Verschlungene, einsame Wege gibt es hier erstmal nicht. Immer entlang der Hauptverkehrsadern, teils dem Strom folgend, teils Gefahr laufend, in ihm unterzugehen, teils gegen ihn schwimmend folge ich unsichtbaren Fußspuren derer, die vor mir hier gepilgert sind. Laut schreiend fliegt eine Schar Zweitaktvögel an mir vorbei und läßt sich an einer überdachten Bank nieder. Ich nähere mich, grüße freundlich die Jungs und Mädels und finde anerkennende Worte für die schön gemachten Mopeds aus Suhl. Ja, es freut auch die Jugend, mal gelobt zu werden (!) und so grüßen alle lachend, wenn auch ein wenig verwundert, zurück.

Kurze Gespräche mit netten Anwohnern im wunderschön herausgeputzten Winzerdorf Roßbach. „Ja, eine Herberge gibt es hier.“ Der Weg wird mir gezeigt und zielsicher steuere ich darauf zu. Das Gebäude ist neu und einladend. Um die Zeit ist aber nur eine Gruppe Jugendlicher hier und keiner weiß bescheid. Der Verantwortliche entschuldigt sich mehrfach und es tut ihm wirklich leid, mir nicht weiterhelfen zu können. Kein Problem, dann finde ich in der Natur ein Plätzchen. Der mittelalterlich anmutende, grob gepflasterte Hohlweg führt stolz und steil aus dem Ort hinaus. Die Brombeeren sind reif und bieten sich an langen Ranken dem Vorbeigehenden feil. Dann gibt es den süßen Nachtisch eben heut als Vorspeise. Mit jedem Schritt erlangt man mehr Weitblick in die Umgebung. Die Sonne verschleiert sich schon in einem rot – orange glühenden Himmelskleid mit blau grauem Saum. Eine fantastische Stimmung senkt sich auf die Erde nieder.

Weit oben über Roßbach schlage ich in der Dämmerung auf einer geraden Feldkante das Tarp auf. Mitten in einem sehr streitsüchtigen, hartnäckig sein Revier verteidigenden Brennesselnest. Oh,oh, das gibt eine Menge frisches Blut. Meine Waden werden noch lange davon erzählen. Ich lasse den Blick in die Dunkelheit schweifen. Unter mir glitzert Naumburg in warmem Gold. Beim Anblick der Umgebung schießen mir Gedanken an die Menschenfelder im Film „Die Matrix“ durch den Kopf. Schier unzählbare, rot aufleuchtende und wieder verglühende Punkte säumen den Horizont. Im Minutentakt ziehen Flugzeuge Halbkreise über meinem  Zelt, um zum Sinkflug gen Leipzig anzusetzen.

Fordernd schöne 38 km am heutigen Tag zwingen mich dennoch in die Waagerechte. Meine Waden pulsieren, der Kopf beginnt, die Eindrücke des Tages zu verarbeiten. Nachts werde ich von Donnergrollen geweckt. Über mir sternenklarer Himmel, am Horizont das Schauspiel. Ein schweres Gewitter geht auf der anderen Talseite nieder. Blitze zucken im Sekundentakt. Eine Zeit lang genieße ich aus sicherer Entfernung dieses Spektakel, bevor mich der Schlafsack wieder verschluckt.

 

 

Daß ich mal so weit an einem Tag freiwillig laufen würde, und das trotz rebellierender Zehen, hätte mir mal einer erzählen sollen. Ich hätte es nicht geglaubt. Nachdenklich und auch ein bisschen stolz sitze ich auf meinem Zelthügel, die Tasse mit frisch gebrühtem IM NU in der Hand, und lasse den herrlichen Morgen in mich hineinströmen. Der Himmel ist wie gewaschen, leicht surrt das Ripstop – Nylon der Plane im Wind. Naumburg zu meinen Füßen erwacht.  Man ist so frei! Ein Hochgefühl überkommt mich. Heute wird ein guter Tag. Daß es am Ende über 40 km werden würden, ahne ich freilich nicht.

Die ersten Schritte sind heute Morgen leicht. Sogar das Schuhe anziehen fällt erfreulich schmerzfrei aus. So wie es normal sein sollte. Die Sandalen sind jeden Cent wert.

Nachdem ich gestern das letzte Dorf hinter mir gelassen habe, ging es nur noch bergan. Das Gelände hebt sich immer weiter vom Grund der Saale ab und bald riskiert man weite Blicke übers Land. Ungefähr auf Höhe Bad Kösen beschreibt der Fluß einen weiten Bogen. Ob die Saale sich hier ins Gestein gefressen hat, oder die Erdkruste dem Wasser einfach nur ein natürliches, rundes Bollwerk entgegenhält werde ich einen Geologen fragen, wenn mir einer über den Weg läuft.

Nebelschwaden versperren den Weg nach Punschrau. Nebelschwaden, die Geräusche machen? Da schiebt sich ein Traktor durch die Wand aus Staub. Hier wird Kalk gestreut. Bis zum Ende des Feldes werde ich noch zig mal durch diese Wolke laufen. Wenn ich also sauer bin, sollte ich spätestens bis zum Ortseingangsschild wieder einen neutralen pH – Wert erreicht haben 😉

Die kleine Gemeinde ziert eine schicke Dorfkirche mit grünem Vorplatz und Pilgerherberge. Dort treffe ich zwar niemanden an, aber eine Frau läuft mir über den Weg. Wir reden kurz und sie läd mich auf ein Getränk und Kuchen zu sich nach Hause ein. Das Angebot nehme ich dankend an. Schatten, Essen, Trinken und nette Gespräche mit den Hiesigen sollte man immer mit nehmen! Wir erzählen über das fehlende Wasser, die Hitze, Früher und auch über die Landwirtschaft. Der Enkel kommt noch dazu und bald haben wir ein nettes Kaffeekränzchen. Ruck zuck ist eine halbe Stunde verquatscht. Sie geben mir noch den entscheidenden Tipp, wo ich den Stempel erhaschen kann.

Am Ortsausgang schaue ich nochmal nach dem Befinden der kleinen Zehen. Besser. Viel besser um genau zu sein. Gerade will ich mich aufschwingen, kommt Cesary um die Ecke gelaufen. Es ist schön, daß wir uns doch noch einmal sehen. Wir beschließen, ein Stück des Weges zusammen zu laufen. Während des Gehens wird sich rege ausgetauscht, und zwar über alles zwischen veganem Essen, Politik, Muskelkater und natürlich auch über den Weg. Wir beide haben in etwa die selbe Geschwindigkeit und so läuft es sich angenehm und wir kommen gut voran.

Gegen mittag treffen wir in Eckartsberga ein, irren ein wenig herum und finden letztendlich einen Einkaufsladen. Dann teilen wir uns einen vegetarischen Döner und jeder holt als Nachtisch eine seiner Köstlichkeiten aus dem Rucksack . Vor dem Dönerladen treffen wir auf Ferdinand, einen großen Kerl mit Bart, Schiebermütze und sehr schwerem Rucksack. Wir quatschen kurz und er macht sich, scheinbar etwas unentschlossen auf den Weg. Wir sitzen, erzählen und knabbern Nüsse, Rosinen und Äpfel. Eine Frau mit ihrer Mutter setzt sich dazu. Wir kommen ins Gespräch und haben nur weing Eile, wieder auf den Weg zu kommen.

„Könnte ich mich euch vielleicht anschließen? Irgendwie finde ich nicht mehr auf den Weg zurück.“, kommt eine Frage von hinten. Ferdinand zeigt uns seinen kleinen Zettel, der sich als seine Wegbeschreibung herausstellt. Sehr übersichtlich und nicht wirklich geeignet den Weg auch zu finden. Natürlich freuen wir uns, ist es doch das erste Mal für jeden von uns, zu Dritt unterwegs zu sein. Mit Hilfe von Karte und Telefon ist es einfach dem Weg zu folgen. Wir beschließen noch, immer englisch zu sprechen, damit jeder der kleinen Gruppe alles verstehen kann.

Es wird ein schöner gemeinsamer Nachmittag, jeder hat viel zu erzählen und jeder hört gespannt dem anderen zu. Solche Begegnungen sind immer bemerkenswert und ein großer Teil der Erinnerungen, die für später gespeichert werden, haben solche Ereignisse als Ankerpunkt.

Die Zeit vergeht schnell, wir machen auch Pausen an schattigen Plätzen und genießen die Zeit zusammen. In Rudersdorf gibt es eine Pilgerherberge. Vor der Kirche rasten wir erneut und besprechen unseren weiteren Weg. Cesary hat sein Tagespensum geschafft und möchte die Herberge nutzen. Ich möchte noch ein paar Schritte gehen und unter den Sternen mein Lager aufschlagen. Ferdinand hat, wie sich herausstellt, Probleme mit den Füßen. Das sieht überhaupt nicht gut aus. Eigentlich müßte er sich auch ausruhen, entscheidet sich aber auch für die Nacht unter freiem Himmel. Es ist so schön warm. Als wir uns einig sind, helfen wir unserem polnischen Weitwanderer noch bei der Suche der Herberge, verabschieden uns sehr herzlich und wünschen einander „Bon Camino! “ . Es war schön, den Weg für einen Tag mit dir teilen zu können!

Ferdinand sehnt sich heute nach einer Bademöglichkeit. Kein Wunder, nach einem so schwülwarmen Tag. Wir schauen uns auf der Karte nach potentiellen Wasserstellen um. Sogar ein kleines Bächlein würde reichen, aber es sollen noch einige lange Kilometer vergehen, bis wir zu der Stelle kommen, an der auf der Karte die verheißungsvolle blaue Linie unseren Weg kreuzt. Unterwegs fragen wir noch ein paar Dörfler, die sich auf der Straße unterhalten nach dem errettenden Naß. Sie sind freundlich, fragen nach dem woher und wohin, bezweifeln aber, daß der Bach badefähig sei. Eine Frau spendiert uns ungefragt Wasser in unsere Trinkbeutel. Wir verabschieden uns fröhlich, aber hängen innerlich doch noch ein wenig dem Gedanken nach, das Bächlein könnte für uns ausreichen.  Als wir uns endlich bis zu Stelle vorangekämpft haben, sind wir plötzlich nicht mehr sicher, ob wir da drin sauberer oder eher noch dreckiger werden. Wir entscheiden uns, dieses halbausgetrocknete, wenig wohlriechende und trübe schaumige Rinnsal zu meiden. Auf der Karte sind in wenigen hundert Metern Entfernung Teiche eingezeichnet. Wir kriechen beide schon ganz schön auf dem Zahnfleisch, halten aber durch. Der Weg ist kein wirklicher Weg. Wir machen einen Umbogen und müßen durch Sträucher und fremde Gärten. Irgendwie ist uns gerade der Orientierungssinn abhanden gekommen. Ein Laubenpieper zeigt uns aber den Weg zurück. Uns stehen drei Teiche zur Auswahl. Einer strahlend grün, der zweite voller Schilf und nahezu ausgetrocknet. Auf dem dritten ist das Wasser ok und es gibt eine Stelle, an der man hineingehen kann.

Gleich auf dem Weg stellen wir Zelt und Tarp auf und stürzen uns ins kühle Naß. Eigentlich schleichen wir eher, denn der Grund ist glitschig. Auch wenn das Wasser erfrischt, so richtig lecker ist es dennoch nicht. Wir schwimmen eine Runde, teilen uns die indische Ökoseife und finden uns, endlich wieder salonfähig, an den Zelten ein. Geschafft vom Tag sitzen wir selig am Kocher. Er muß noch seine schlimmen Füße verarzten. Dazu plündern wir mein Erste Hilfe – Päckchen. Zum Abendessen spendiere  ich Suppe, er frisches Brot und Käse. Ein Festmahl nach 40km Fußmarsch bei unnötig hohen Temperaturen.

Die Dunkelheit bricht herein und wir erzählen leise, während der Kessel anfängt, zu dampfen. Er ist sich nicht sicher, ob weitergehen Sinn macht, weg von den Lieben, die Ausrüstung nicht in Ordnung, das Budget zu knapp und Zweifel im Kopf. Ich kann nur ein paar Ratschläge zu besserer, aber vor allem leichterer Ausrüstung geben und meine Erfahrungen beisteuern. Gute Schuhe und ein leichter Rucksack  können schon das Blatt von „Verlierer“ auf „Gewinner“ wenden. Schultern muß er dann den neu gepackten Rucksack allein.  Später kriecht jeder in seinen Kokon und bald kehrt Ruhe ein am Biwakplatz zu Buttelstedt.

 


Der Morgen kommt in ungewohnten Farben daher. Etwas ungläubig starren wir der sich am Horizont nähernden Wolkenfont entgegen. So etwas habe ich seit vielen Wochen nicht mehr gesehen. Uns bleibt Zeit für ein kleines Frühstück.  Beim Packen und Aufräumen werden wir grollend vom herannahenden Gewitter zur Eile gemahnt. In nun schon nicht mehr all zu weiter Ferne entledigt sich die Natur ihrer überschüssigen Kräfte. Blitze zucken, LKW – Ladungen von Steinen werden irgendwo im Dunkelgrau des Wolkenberges abgekippt und rumpeln im Sekundentakt über uns hinweg.

Dann die ersten Tropfen. Schnell wird die Hardshell übergeworfen. Eins, zwei, einhundertzwanzigtausenddreihundertvierzig…. Es gießt wie aus Kannen. Wir patschen trotzdem frohen Mutes durch Pfützen, entlang an regengepeitschten Hecken, unter vom Wind wieder trocken geschüttelten Bäumen hindurch. Die Hauptzelle des Gewitters hat sich, wie wir später erfahren werden, über uns geteilt. Somit wurden wir nur naß. Naß im Ursinn des Wortes! Aber der Regen ist nicht kalt. Die Füße quietschen lustig im Fußbett der Sandalen umher. Es macht einfach nichts. Später wird die wärmende Strahlung der Sonne alle Feuchtigkeit wieder zurückfordern.

Im Regen zu rasten ist keine so erquickliche Angelegenheit. Man kühlt recht schnell ab und wird gewahr, daß man schon angenehmere Situationen auf seinem Marsch hatte. Also geht man einfach weiter, bis sich eine schöne Gelegenheit bietet. Bei uns heißt diese: Freizeitbad Ottmannshausen. Damit das nicht zu banal klingt sei es nochmals hervorgehoben. Es IST eins der schönsten Erlebnisse auf dieser Etappe, wenn nicht der gesamten Strecke.

Seit ein paar Kilometern nehmen wir uns vor, eine Rast einzulegen. Hinaus aus  Ottmannshausen entdecken wir direkt am Weg das Schwimmbad. Es hat augenscheinlich geschlossen, viel Besuch sollte bei dem Wetter auch nicht zu erwarten sein, aber eine Tür steht offen. Wir schmettern ein fröhliches „Hallo!“ über den Zaun und werden erhört. Der Bademeister tritt heraus und sieht zwei triefnaße Gestalten am Eingangstürchen. Wir fragen, ob wir hier eine Rast ein- und uns trockenlegen dürfen. „Natürlich, klar, kommt rein!“

Erstmal gibts trockene Sachen aus dem Rucksack. Eine Wohltat! Wir sind naß bis auf die Unterhosen. Alles wird ausgewrungen und über Zaun, Stuhl und Tisch ausgebreitet. Wenn wir jetzt noch in Dederonschürzen und Gummistiefeln rauchend hier sitzen würden, sähe das für den vorbeiziehenden, nichtsahnenden Passanten aus, als würde hier die Fortsetzung von “ Familie Flodder“ gedreht.

Seit zehn Minuten haben sich die Himmelsschleusen geschlossen und es besteht eine Chance, die Sachen etwas zu trocknen. Im Hintergrund grummelt es zwar noch ein bisschen, zieht aber vorbei. Wieder wird das Essen geteilt, und die behagliche Wärme der trockenen Klamotten genossen. Während wir mampfend am Tisch sitzen und uns in uns hinein freuen, gibts Geschichten vom Bademeister über das Wetter und das Freibad. Er arbeitet bereits sein halbes Leben hier und hat schon viel erlebt. Stolz schwingt in seiner Stimme mit, als er uns die vergilbten Schwarzweiß – Fotos aus den Tagen der Erbauung dieses Kleinods erklärt. Mit Recht. Es ist wunderschön hier. Für uns umso mehr, wurden wir doch so freundlich aufgenommen. Tausend Dank dafür! Schatten spendende, hohe Bäume , sonnige Liegewiesen und eine top moderne, sehr gepflegte Badelandschaft machen den Aufenthalt zu einem Erlebnis für Jung, Alt und … uns.

Plötzlich legt er zwei Münzen auf den Tisch. „Falls ihr duschen wollt.“ Wir sind perplex. „Und wenn ihr vorher noch ein paar Runden schwimmen wollt, hüpft einfach rein. Es kostet nix. Das mache ich nur für euch Pilger.“ Wir freuen uns riesig und sind auch schon in Richtung des verlockend klar und türkis schimmernden Edelstahlbeckens unterwegs. Danach gibt es eine ausgiebige, warme Münzdusche und wir scherzen, daß wir nun endlich den Dreck vom letzten Mal baden im Entengrützeteich los würden.

Außer uns ist nur ein kleines Mädel in Begleitung ihres Opas auf dem Gelände. Sie will das Seepferdchen – Schwimmabzeichen machen, hat aber Angst, den Rand loszulassen. Schließlich überwindet sie sich doch und siehe da, es klappt. Die Kleine, ihr Opa, der Bademeister und auch wir strahlen über beide Ohren. „Da hab ich ein tolles Geburtstagsgeschenk für Oma heute nachmittag.“ hören wir noch das Mädchen stolz sagen. Als alle Sachen eingesammelt und gepackt sind, verabschieden wir uns in Dankbarkeit. Frisch und erholt kann es nun weiter gehen. Die Sonne lugt bereits hinter ein paar restlichen grauen Himmelshaufen hervor… und hat schon wieder mächtig Kraft. An unseren Rucksäcken baumeln trocknend die Sachen.

Wir lassen uns durch die Felder treiben. Hier ist die Wegführung eher geradlinig. Durch die weite Sicht selbst von kleinen Anhöhen aus auf das Umland aber dennoch nicht langweilig. Wir passieren kleine Dörfer, die in der Mittagshitze vor sich hin dösen, machen Pausen wenn es uns passt. Mal kommt eine schattige Parkbank gerade recht, um sich mal so richtig lang hinzulümmeln, einen Schluck von Ferdinands selbstgemachtem Hollundersaft zu nehmen, Bonbons zu tauschen oder einfach in den Himmel zu starren. Dann liegen wir mal wieder hinter einer Hecke, sitzen unter einer Eisenbahnbrücke oder direkt auf der verlassenen Straße herum, lassen uns bruzeln und Schuhe und Socken binnen weniger Minuten auf heißem Asphalt trocknen. Kaum mal ein Mensch ist zu sehen, ab und zu tuckert ein Traktor vorbei, dessen Insassen grüßen. Nach Ollendorf verläßt der in natura vorhandene Muschelweg den vorgezeichneten Lauf in meiner Karte und führt weiter durch die Felder einen schönen Hohlweg entlang. Pflaumen, Mirabellen und alte Apfelbäume bieten ihre Früchte feil, von denen wir sehr gern Hände voll in den Mund stecken. Dabei verdrängen wir ein bisschen und lenken uns ganz gut davon ab, daß Ferdinand echt problematisch unterwegs ist. Ihm machen die Hitze, der megaschwere Rucksack und die blasigen Füße schwer zu schaffen. Immer kürzer werden die gelaufenen Abschnitte, immer länger die Pausen.

Gen nachmittag kommt er sichtlich erschöpft zu dem Entschluß, sich hier, jetzt und gleich in diese Haltestelle zu setzen, den nächsten Bus gen Erfurt abzuwarten und nach Hause zu fahren. Dort will er sich etwas Geld verdienen, ordentliche Ausrüstung besorgen und auf jeden Fall irgendwann auf den Weg zurückkehren. Diese  Zeit des Wanderns hat ihm so gefallen. Wir nehmen uns viel Zeit für den Abschied, teilen noch einen Riegel und wünschen uns ein gutes Leben. Ein schöner Wunsch eigentlich. Das kann und sollte man ruhig öfter jemandem wünschen.

Dann gehe ich weiter. Ein letztes Mal umdrehen und winken.

Erfurt. Wieder spüre ich den Sog. Ich fühle mich wie ein Schulkind in einem riesigen Freiluft – Physikexperiment. Und endlich verstehe ich auch, was die Lehrerin mit jeder Menge Formeln nicht vermochte. Wie war das: Je größer die Masse eines Körpers, desto größer seine Anziehungskraft? Und nun scheinen die Gravitationswellen dieser Masse E ( wie Erfurt ) auf mich zuzugreifen, mich anzuziehen wie ein schwarzes Loch den kleinen Planeten, der sich mutig und neugierig zu nahe heranwagte.

Die Füße laufen wie von allein, mich überkommen ähnliche Gefühle wie beim Einmarsch in Leipzig. Im Kopf ist noch ein wenig Platz frei für Stadterinnerungen und Momentaufnahmen.

Zwei meiner besten Freunde wohnen hier. Wie toll wäre es, an ihre Tür zu klopfen und so nebenbei zu erwähnen: „… bin mal eben von Leipzig dahergelaufen…“ . Aber sie sind im Urlaub und so manövriere ich durch den Feierabendverkehr gen Hauptbahnhof. Am Gagarin – Ring nahe der Ecke Meyfartstraße sticht mir ein kleines Geschäft mit orientalischem Flair in die Augen. Es riecht exotisch. Im Angebot ist feinster Kaffee, Tee, auserlesene Süßigkeiten und arabisches Eis. Ein superflauschig – gemütliches Sofa lädt zum verweilen ein. Ich kann nicht wiederstehen. Pistazien, ungewohnte Gewürze und feines Eis schmeicheln dem Gaumen. EIN GEHEIMTIPP!

Das Gewusel der Innenstadt wird immer größer. Bald gelangt man zum Zentrum, von dem die Anziehungskräfte auszugehen zu scheinen. Die Pforte des Hauptbahnhofs schluckt jede Menge Menschen und gibt simultan wieder welche frei. Hier gleichen sich die Kräfte aus.

Auf der Bahnhofstoilette mache ich mich „schick & frisch“ für die Rückreise. Ein sauberes T-Shirt, Socken mit neutralem Odeur und jede Menge Lavendelseife und Wasser helfen dabei kolossal.  Bis zur Abfahrt gibts noch sehr gute Fish and Chips aus einem Minilädchen der Futtermeile des Bahnhofsinneren. Aus dem Buchladen gibts „Unterleuten“ von Juli Zeh in den Rucksack ( für meine Frau zum schmökern mit nach Hause ). Auch für eine liebe Postkarte an den hilfsbereiten Schuster in Merseburg bleibt genügend Zeit.

Vor nicht ganz 5 Tagen und 170km begann mein Weg in Leipzig. In etwas mehr als 3 Stunden werde ich kurz vor Zuhause den „Haltewunschknopf“ des Bummelzugs drücken, um ein, zwei Wimpernschläge später selig in die heimische Matratze zu sinken. In Sicherheit. Geliebt. Unerwartet und doch Zurückgesehnt.

DANKE!

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