- Man muß es so einrichten, daß einem das Ziel entgegenkommt .
– Theodor Fontane –
Ich geh mit dir wohinste willst!
– Simon Michalowicz –
2 Monate zuvor. Ich liege im Hochbett und starre voller Dankbarkeit in die warme Dunkelheit neben mir. Ihre Strahlen dringen unter meine Haut und geben mir das Gefühl von zu Hause und Geborgenheit und die Gewissheit, geliebt zu werden. „Danke!“ , flüstere ich leise und wir liegen uns in den Armen. „Möchtest du mich auf dem letzten Abschnitt begleiten?“ „Ja!“
Der Oktober ist trocken, zu trocken. Und er ist spätsommerlich warm. Es ist alles getan auf den Feldern. Die junge Saat steht abwartend auf der Stelle. Wir bangen immernoch um jeden Tropfen Wasser, der vom Himmel fällt, und machen uns ( ein letztes Mal ? ) auf den Weg. Bei unseren Freunden darf das Auto parken und wir genießen die Zeit zusammen.
Sonntag vormittag nehmen wir unsere Rucksäcke auf und schlendern über den Domplatz hinüber zu dem Gotteshaus, dessen spitze Zacken seit Jahrhunderten über die Stadt wachen. Menschen beobachten, auf den Stufen sitzend die Zwei mit den Rucksäcken. Ein kurzer Blick ins Innere. Leuchten, Glitzern, Erhabenheit, aber nicht die allumfassande Stille, die in Merseburg greifbar erschien. Ja, es ist Sonntag und es ist ein Kommen und Gehen.
Einmal hinabgestiegen vom Domberg, leitet uns die Jakobsmuschel wieder zuverlässig an. Bald lockert sich die enge Bebauung, die Straße steigt an, Häuser treten zurück und lassen sich von terassierten Vorgärten zieren. Bald gewinnt die Natur die Oberhand und es geht ins Grüne, entlang am ausgetrockneten Eselsgraben durch einen Einschnitt. Hier steht die Luft. Die erste Pause winkt uns in Form einer beschatteten Weggabelung. Ein paar Schlückchen Wasser, ein Riegel, ein Apfel und genießen; Atem holen.
Pilgern. Das war bisher meine Sache. Nun schätze ich mich glücklich, bei diesem Abenteuer zu Fuß meine Frau dabei zu haben. Wie oft sind wir hoch geflogen, mußten ackern, haben gestritten, uns geliebt, die Kinder wachsen behütet und mit stolzen Eltern auf. Wie oft konnten wir uns aus verschiedenen Zwängen heraus nicht so einfach zusammen „auf große Fahrt“ begeben. Heute sind wir hier. Zusammen und gemeinsam! Das ist etwas Großes. Ich werde es auf der Reise nicht immer schaffen, die Freude und Dankbarkeit darüber so in jedem Moment auszustrahlen, daß sie bei meinem Gegenüber richtig ankommt und einwirken kann. Deshalb versuche ich es mit Worten in diesem Bericht.
Zu Zweit also! Voreinander, nebeneinander, hintereinander, Hand in Hand oder auch mal in weiterem Abstand ziehen wir auf der digitalen Karte unseren roten Strich durch die Landschaft. Es ist schön, auch mal nichts sagen zu müßen, sich trotzdem verstanden zu fühlen, seinen eigenen Gedanken nachzujagen, wahlweise die Leere zu fühlen. Dies ist meiner ehrlichen Meinung nach alleine besser zu bewerkstelligen. Keine unangenehme Ruhe entsteht. Dann wird wieder erzählt, gezeigt, zusammen entdeckt, ein Plan für die Nacht ausgeheckt. Das wiederum kann man in der Form alleine nicht erleben. Es ist eben anders.
Unsere Sonne streift schon die Spitzen der Bäume. Die weichen, runden Erhebungen des Thüringer Waldes zieren als Scherenschnitt den Horizont. Schatten werden lang und dünn, Kontraste weicher. Auf der Karte habe ich in einiger Entfernung einen potentiellen Schlafplatz gefunden, den wir nun ansteuern. Am Waldrand entlang suchen wir uns eine geschützte, abgelegene Stelle, an der wir niemanden stören und morgen früh auch gleich die ersten Sonnenstrahlen einfangen können. Die Nacht bricht schnell herein. Es ist eben Oktober, wenn auch ein goldener.
Schon auf früheren Wanderungen hat sich eine wunderbare Symbiose zwischen uns entwickelt. Wie von selbst erledigt jeder die nötigen Handgriffe. Zelt aufbauen, Nest gemütlich einrichten, Küche aufstellen, Wasser für Abendbrot und Tee holen/ filtern/ kochen. Die Aufgaben sind verteilt, ohne daß jemand einen Befehl ausgegeben hätte. Sanft breitet sich die Isomatte unter unseren müden Gliedern aus. Wir beobachten lümmelnd, sitzend, liegend, wie die blauen Flämmchen leise züngelnd den Wasserkessel umspielen. Ruhe. Ab und zu ein Rascheln von der Feldkante, vielleicht eine Maus. Eine hohe Hecke hält uns den Rücken frei, doch auch hier Anzeichen dafür, daß der Herbst da ist. Selbst bei Windstille fallen die Blätter, leise raschelnd in die Dunkelheit. Wir teilen uns ein turmat – Gericht, Kekse und Minisalamis, trinken Tee und horchen in die Nacht, selig, heute hier zusammen sein zu dürfen. Bald beginnt es uns leicht zu frösteln, die Schlafsäcke locken bereits. Satt, zufrieden und müde mummeln wir uns ins gemachte Nest und schon bald breitet der Schlaf seine Flügel über uns aus.
Guten Morgen! Die Sonne glitzert durch das Mückennetz. Aus dem leuchtend blauen Kunstfaserhaufen neben mir blinzeln 2 verschlafene Augen. „Noch ein paar Minuten liegen bleiben … BITTE !“ Bald dampft der Kessel wieder und es gibt Kaffee, IM NU und Müsli. Frühstück im Bett. Wann gibt es sowas zu Hause schon einmal? Nichts ist schöner, als seine Nase über eine dampfende Tasse Tee oder Kaffee zu halten und das duftende Aerosol in sich aufzunehmen. Sofort wird diese Zeit zu einem glücklichen Moment. Hier draußen, die Sonne verwöhnt unsere Gesichter mit wärmender Strahlung, finden wir Zeit und Muße, uns an den einfachsten, alltäglichen Dingen wieder zu erfreuen.
Zeit zum Aufbruch. Wieder geschäftiges Treiben an dem blaugrauen Zelt da hinten am Durchschlupf zwischen Hecke und Wald. Die Handgriffe sind rountiniert und binnen weniger Minuten ist unser Nachtplatz aufgeräumt, alles verstaut, die Rucksäcke geschultert und den Beinen das „GO!“ übermittelt. Danke für diese behütete Nacht! Von Weitem sind markante Türme zu sehen und wir fragen uns, ob das schon Gotha sei.
Es könnte doch so wunderbar sein, mit dem Kopf im Hier und Jetzt. Meine Frau beherrscht und zelebriert diese Kunst, den Moment zu genießen, derer ich heute scheinbar nicht mächtig bin. Meine Gedanken schweifen voraus, suchen angeheizt von der Schönheit des Tages und dem Hochgefühl der Freiheit und des Beieinanderseins nach dem unerreichbaren Punkt, dem ultimativen Ziel, dem nächsten Abenteuer. Ein flasch verstandenes Wort genügt, den Höllenstrudel in Bewegung zu setzen. Warum nur? So glänzend dieser Tag begonnen hat, so abgeschliffen, matt, und voller dunkler, tonnenschwerer Hindernisse wird er sich dahin schleppen, um sich erst mit dem letzten Sonnenstrahl wieder ins positive zu kehren. Weniger Worte, mehr Liebe und Nähe wären heute nötig gewesen. „Good Bye Lehmann“ hatte bereits eine Antwort für mein Problem. Dessen werde ich mir aber erst später bewußt.
Der Kopf ist der stärkste Muskel. Er treibt den ganzen Körper an, motiviert den Bewegungsapparat und läßt einen die eigenen Grenzen überwinden, wenn man es nur will. Im umgekehrten Falle macht er jeden Schritt selbst in noch so einfachem Gelände zu einem Weg, den lotrechten Felsen hinauf. Die Schuhe sind bleischwer, ein paar wenige Kilometer dehnen sich zu schier unüberwindbaren Distanzen aus. Ich bin gefangen im eigenen Kopfkino. Es gilt, schnell einen Ausweg zu finden.
Laufen!
Schöne Eindrücke gibt es genügend um uns herum. Seien es die nett anzuschauenden Dörfer, der Blick über die Felder und in den sonnig – warmen Herbsttag oder die näher rückende Silhouette der großen Stadt.
Gotha betreten wir ein wenig durch die Hintertür. Am wilden Graben nahe der Boxhalle spricht uns im Vorbeigehen ein älterer Herr mit einem großen, ruhig nebenher trottenden Hund an. Ein nettes Gespräch entsteht. Wir sehen wie Wanderer aus und das ermutigt ihn, in Erinnerung an sein eigenes Leben, uns Fremde anzusprechen. „Wir sind früher oft, gern und weit gewandert, meine Frau und ich. Ihr macht das richtig, jetzt damit zu beginnen. Wenn man älter wird, ist das schwierig. Es ist eine schöne Art der Fortbewegung. Jetzt hält mich der Hund in Bewegung. Bald gelangt ihr an die ehemalige Grenze. Dort mußte ich Dienst tun. Mit meinem Pferd hatte ich die Aufgabe, den Sand zu ebnen, damit Fußspuren zu erkennen waren. Eine schlimme Zeit!“ Mit einem Mal wird auch mir bewußt, wie weit uns die Füße schon durch das Land getragen haben. Von der ehemaligen Ost- bis zur Westgrenze. Fast haben wir die auf dem Pilgerabzeichen stilisierte Brücke in der Wirklichkeit auch geschlagen. Wir verabschieden uns fröhlich und stapfen zielsicher gen Zentrum.
Die ehrwürdige Margarethenkirche lädt ein. Ein Zettel am hölzernen Seitentürchen fordert zum Eintritt auf. Als die Tür sich schließt, bescheidet sich die Außenwelt und dringt nicht weiter auf uns ein. Wir zünden Kerzen an. Der Kantor drückt seinen Stempel in den Ausweis. Stille Minuten der Besinnung. Wohlige Kühle legt sich angenehm auf die heißgelaufenen Körper. Auch innerlich tritt mehr und mehr Ruhe ein.
Später auf dem Markt gibts zwei Kugeln Eis für jeden zum mitnehmen, kredenzt von einer bunt geschminkten, netten Dame.
Wir laufen. Westwärts. Geradlinig und bergan zieht der Weg sich durch gepflegte Kleingartenanlagen. Allmählich greifen die Blicke weiter und weiter, bis wir bald auf einer Anhöhe die ganze Stadt einsehen können. Oben spricht uns fröhlich eine bunt gekleidete Frau an. Ein tiefer gehendes Gespräch wird aber durch ihr ständig klingelndes Telefon vereitelt. Die Luft ist diesig und heiß und von Frau Sonne mahnt uns, diesen schattigen Ruheort an der alten Hecke zu nutzen. Wir machen es uns gemütlich, ein Müsliriegel und Wasser machen die Runde.
Nur wenige Worte werden gewechselt. Jeder hängt seinen eigenen Gedanken nach. Mich zu motivieren fällt mir schwer. Eigentlich lockt doch heute ein schönes Ziel. In Mächterstedt warten Unterkunft und Verpflegung, sowie ein weiches Bett auf uns. Also weiter!
Der Westhang des Hügels den wir nun auf sandigen Wegen hinab steigen, führt durch ein mit niedrigen Sträuchern und hohem Gras bestandenes Gebiet. Auf der alten Panzerstraße kommen wir ohne größere physische Barrieren voran. Nur der Kopf spielt nicht so richtig mit. Wenn wir nach Süden schauen, zieht sich der Kamm des Thüringer Waldes in der immer niedriger stehenden Spätnachmittagssonne wie ein dunkles Band am Horizont entlang. Am Straßenrand steht eine meterhohe Strohfeie aus Quaderballen. An ihr lehnt ein Hightech – Mountainbike. Ringsum ist niemand zu sehen. Plötzlich rappelt es oben und ein Kopf blickt auf uns herab. Dieser gehört zum Eigentümer des Fahrrads. Scheinbar hat er ein ruhiges Plätzchen gesucht und gefunden. Wir grüßen. Er ruft uns ein freundliches: „Viel Glück auf den Weg, ihr Wandersleut“, zu.
Rechts unten im Tal liegt das Dörflein Metebach. Dort, erinnere ich mich, verbrachte mein Vater einen Teil seiner Ausbildung. Als Kind gehörte Geschichten und Ereignisse aus dieser Jahrzehnte zurück liegenden Zeit kommen mir in den Sinn. Hier auf diesen Fluren müßen sie sich zugetragen haben.
Langsam kommen wir gegen die uns entgegenwachsenden Schatten der Welt um uns herum voran. Und auch wieder ins Gespräch.
Ich realisiere, was es doch für eine Gabe ist, hier mit einem der wichtigsten Menschen in meinem Leben gehen, stehen, erleben und sein zu dürfen. Gute Worte finden wieder den Weg in den Kopf des Gegenüber, führen zu Verständigung und, viel wichtiger, weiter zu Verständnis! Ganz plötzlich finden auch Augen und Hände wieder zueinander und die tonnenschweren Gewissensklötze bleiben einfach an der Plattenstraße kurz vor Mächterstedt stehen. Endlich!
Frohen Mutes und mit müden Füßen, jedoch trotzdem wie auf Wolken laufen wir unserem Ziel entgegen. An dem kleinen Friedhof halten wir kurz am Grab des Vaters eines unserer besten Freunde inne.
Nur noch wenige Meter und wir werden ganz liebenswert empfangen und aufgenommen. Die Dusche, ein reich gedeckter Tisch, ja sogar eine Flasche Sekt und viel Stoff zum erzählen warten schon auf uns. Spät in der Nacht liegen wir selig und voller Dankbarkeit Arm in Arm, bis der Schlaf uns davon trägt.
Der Morgen graut. Meine offenen Augen genießen den Anblick dessen, was da mit noch geschlossenen Augen, ruhig atmend neben mir liegt. Der Kopf malt die Gedanken des Tages vor. Jeden Tag aufs Neue bin ich gespannt, was es wohl diesmal zu entdecken gibt. Weiter! Weiter! Der Weg ruft.
Rundum liebevoll versorgt mit einem fantastischen Frühstück, vielen Geschichten und dem Gefühl hier jederzeit wieder willkommen zu sein, treten wir, die Rucksäcke geschultert, ins Freie. Der Abschied fällt zugegebenermaßen nicht leicht, aber schließlich lösen wir uns, tauchen unter der Eisenbahntrasse (ehemals Warschau – Paris) hindurch, um kurz vor Burla wieder die viaregia zu betreten. Noch ist der Tag grau und kühl, doch wir sind guten Mutes.
Von unserer erhöhten Position aus haben wir nun einen guten Blick auf das, was wir bisher nur als stetiges Hintergrundrauschen akustisch wahrgenommen haben. Im Tal teilen sich Autobahn und Eisenbahn den Job des Schallerzeugers. Warum auch immer, es erinnert mich an die Essenshalle auf der Insel Usedom zu DDR – Zeiten. Die Autobahn hält sich im Hintergrund ist aber ständig präsent, wie die vielen einzelnen, sich unterhaltenden, essenden und mit dem Geschirr klappernden Menschen. Züge und Schienen sind da eher kurze laute Zwischenrufe, die aufflammen und wieder abebben.
Hinter Burla überqueren wir die A4. Bald wird endlich der Asphalt unter unseren Füßen zu einem angenehmer zu gehenden, wenn auch stetig ansteigenden Feldweg. Das Naturschutzgebiet Hörselberge ragt wie ein halbrunder Schutzwall aus der Umgebung, als wolle es mit dem steil abfallenden Südhang die vordringenden Horden kriegerischer Stämme abhalten. Oben angelangt offenbart sich ein herrlicher Weitblick. Auf diesem schönen Fleckchen Erde legen wir eine Pause ein, genießen die Aussicht und lassen uns die am Wegesrand aufgesammelten verschiedenen Äpfel shmecken. Noch ein Schluck Wasser dazu. Was braucht es mehr?
Der Kammweg führt durch den Wald auf und ab und immer wieder erhaschen wir Ausblicke hinunter ins Tal. Hinter dem kleinen Hörselberg gibt es noch einmal einen Aussichtspunkt, bevor es recht steil ins Tal hinab geht. An einer Biegung des Flüsschens Hörsel, ein paar Meter außerhalb von Wutha lassen wir uns zu einer weiteren Pause nieder, bevor uns die Außenbezirke Eisenachs aufnehmen. Es fügt sich immer wieder, stets einen netten Platz zu finden, wenn er gerade benötigt wird. An die Rucksäcke gelehnt und Kekse knabbernd beobachten wir aus sicherer Entfernung den Verkehr auf der Eisenbahnlinie und der Bundesstraße. Hundeläufer ziehen vorbei, jede Menge Fahrradfahrer und eine Mutti mit Kinderwagen sind unterwegs.
Eisenach empfängt uns an den Hintertür. Irgendwie ist hier die Beschilderung abhanden gekommen. Leicht verwirrt irren wir durch ein Gewerbegebiet, finden aber keinen Hinweis. Vielleicht bin ich auch einfach zu doof zum Karte lesen. Letztendlich folgen wir unseren Nasen und landen mitten im Zentrum der schönen, ehrwürdigen und geschichtsträchtigen Stadt. Ein unglaublich leckeres Eis auf die Hand gibts an der Ecke zum Markt. Die Geschäfte, Restaurants und Cafe’s sind allesamt gut besucht und an den nett zurecht gemachten Tischen sind nur wenige Plätze frei. Also nehmen wir auf einer Parkbank neben der Georgenkirche Platz und schlecken. Die andere Bank hat die Jugend mit Beschlag belegt. Laut wird sich multinational unterhalten, gelacht, mit den Mädels geflirtet und über den halben Markt Bekannte begrüßt. Eine Gruppe deutscher Jungs gesellt sich dazu. Man kennt sich. Ghettofaust!
Als unsere Leckerei vertilgt ist, kommen unsere Bäuche nur schwer hoch. Die Beine sind nach bisher um die 20 km auch nicht mehr taufrisch und nur eine mäßige Hilfe. Dennoch steuern wir bald quer über den Platz auf die Touri – Info zu. Als drittletzter Stempel dieser Etappe prangt nun eine Lutherrose im Pilgerausweis. Zurück über den Markt finden wir auch wieder auf den rechten Weg. Der führt recht schnell recht steil werdend gen Wartburg, eine der wichtigsten Wirkstätten Martin Luthers und der Reformation. Der späte Nachmittag geht in den Abend über, aber einige Höhenmeter wollen noch bezwungen werden. Zur Belohnung lockt die Wartburg und vielleicht ein Sonnenuntergang über den Hügeln im Westen.
Ein bekannter Geruch steigt in unsere Nasen. Hier waren vor kurzem Pferde unterwegs. Da sehen wir schon die Station, von der aus man sich, ganz wie im Mittelalter per Esel zur Burg bringen lassen kann. Wir schaffen die wenigen Meter auf Kopfsteinpflaster auch noch zu Fuß. Nur wenige Menschen sind noch da. Das macht die Anlage mit Einsetzen der Dämmerung noch angenehmer, stiller, Ehrfurcht gebietender. Man braucht nur eine Weile auf einer der Bänke, in einer Niesche oder auf der Burgmauer zu sitzen. Schon kommen mit ein wenig Fantasie Bilder von Rittern, Mönchen, wandelnden Edeldamen, schwer mit Holz, Schwertern, Wein, Getreide, Gemüse und Obst beladenen Pferdefuhrwerken, die sich den Berg hinauf kämpfen, in den Kopf geschossen. Sommers wie Winters geschäftiges Treiben, um das tägliche Leben auf der Burg zu gewährleisten.
Gerade glüht die Sonne noch einmal in der schmalen Wolkenlücke rotorange auf und setzt Anjas Haare „in Brand“, bevor sie sich, unermüdlich wie jeden Tag, anderen Regionen hingibt.
Langsam gilt es, sich eine Lagerstatt für die Nacht zu suchen. Steil und eng führt der Weg unter der Zugbrücke hindurch und weiter hinunter zum Fuße des Burgfelsens. Schnell greift Dunkelheit zwischen den Laubbäumen um sich. Ein paar Meter abseits des Weges im Areal der ehemaligen Eisenacher Burg und in Sichtweite der nun hell erleuchteten Wartburg, findet sich ein ebener Platz in weichem Gras. Die Sterne kommen hervor. In einer Linie mit dem Zelt und der Burg thront der große Wagen am Himmel. Wir lassen es uns gut gehen, sind aufs Neue zufrieden und glücklich, hier zu sein und genießen die Stille. Anja liest, ich denke an nichts und genieße.
Als ich, wie immer als Erster, aus dem taunassen Zelt blicke, offenbart sich mir im Schimmer der Morgensonne der Beginn eines herrlichen Tages. Kein Lüftchen geht, alles ist friedlich. Ein paar Schritte weiter tut sich unter mir ein Tal im Nebel auf. Das Licht ist fast magisch, der Nebel erscheint dadurch wie in Gold getauchte Watte. Herbstgefärbte Blätter runden das leuchtende Schweigen ab. Geräusche von Verkehr und Zivilisation dringen nur stark gedämpft aus dem Grund des Tals zu mir herauf. Ich flitze zum Zelt zurück und hole Anja aus dem Schlafsack. Gemeinsan stehen wir in Unterwäsche und Schlafnicki am Abgrund und staunen.
Nach einem gemütlichen Frühstück sind rountiniert alle Sachen wieder verstaut. Danke für diesen schönen Nachtlagerplatz!
Es beginnt unser “ Waldwandertag „. Hand in Hand schlendern wir den belaubten Weg entlang. Das Blätterdach der Laubbäume ist bereits löchrig geworden und lässt Sonnenstrahlen hindurchschlüpfen. Die letzten grünen Farbpigmente machen unausweichlich den Herbstfarben platz. Der Weg führt direkt an der Sängerwiese vorbei. Schon morgens duftet es aus den Töpfen der gastronomischen Einrichtungen nach Gesottenem und Gebratenem. Wie es wohl vor rund 170 Jahren ausgesehen und vor allem geklungen haben mag, als 28 Männerchöre zu einem Sängerwettstreit hier zusammen trafen? Man versucht sich vorzustellen, wie weit die Melodien durch die Bäume und in die Täler getragen wurden.
Einen Teil der Strecke gehen Pilgerweg und Rennsteig nun gemeinsam daher. Ab und an erhascht man einen flüchtigen Blick in die Umgebung. An einigen Stellen sogar bis weit hinüber zur Wartburg. Sie verharrt auf ihrem Hügel und wacht wie eh und je über die Stadt und die umliegenden Wälder. Als die ersten knapp sechs Kilometer zurückgelegt sind gönnen wir uns eine Pause mit Weitblick übers Tal. Mir tropft beim auspacken des orangefarbenen Beutels für die Tagesration schon manchmal der Zahn. Minisalamis und Kekse machen die Runde. Schön ist es hier. Wir sind nahezu allein und genießen die Stille des friedlichen Herbsttages.
Nur kurz entlässt uns der Wald beim Gut Hütschhof aus seiner Umarmung, um uns gleich nach den letzten Häusern wieder willkommen zu heißen. Über uns ziehen rufend und in militärischer Ordnung Kraniche hinweg. Auch wir fühlen uns in diesem, wenn auch kurzen Moment, frei wie die Vögel.
Oberellen war früher einer jener schwer erreichbaren Orte. Nicht weit hinter dem Ortsausgangsschild begannen die Anlagen der innerdeutschen Grenze. Für die Einwohner war es schwierig. Ständige Kontrollen und Überwachung. Keine Rede von „sich frei bewegen können“. Heute ist es ein schöner Ort mit herausgeputzten historischen und neuen Häusern und einer Dorfstraße, deren Verlauf nicht mehr in einer Todeszone endet.
Wir gönnen uns den kleinen Umweg zur Tankstelle, dürfen uns in der fein renovierten Toilette frisch machen und bestellen Cola plus Bockwurst mit Semmel. Draußen im Pavillon schnallen wir die Rucksäcke ab und genießen unseren Mittagsimbiß. Eine schüchtern wirkende Frau setzt sich zu uns, genießt ihren Kaffee und die Zeitung. Dennoch kommen wir bald in ein nettes und interessantes Gespräch. Auch sie arbeitet in der Landwirtschaft und kann unsere Zwänge und Sorgen mit der aktuellen schwierigen Lage unseres gemeinsamen Berufsstandes nur allzu gut nachvollziehen. „Es ist schade, ärgerlich und sehr traurig, nur noch als Umweltverschmutzer, Tierqäuler und größter EU – Subventionsempfänger in der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden! Früher war der Stand des Bauern als Ernährer des Volkes wichtig und auch geachtet. Heute? … !“ Sie spricht uns aus der Seele.
Die Zeit vergeht schnell beim erzählen. Wir verabschieden uns und gehen etwas nachdenklicher unserer Wege.
Langsam kehren wir dem Thüringer Wald den Rücken zu und bewegen uns in die hügelige Mittelgebirgslandschaft der Rhön. Die Dörfer scheinen sich immer noch Schutz suchend vor marodierenden Raubrittern in Talmulden zu kuscheln und verschwinden schon nach dem nächsten grasbewachsenen Hügel aus dem Blickfeld. Es ist Nachmittag. Die Sonne steht schon recht tief, wärmt aber die Gesichter noch wunderbar. Trotz der schon seit langem anhaltenden Trockenheit finden wir unter den langen Schatten des Waldrandes Wiesenstreifen, denen noch immer Tau anhaftet.
Stetig führt der Weg bergan. Kurz bevor uns der Wald wieder hat, noch eine kurze Rast an einer überdachten Bank. Ich schmökere im Gästebuch, während meine Füße Frischluft bekommen. Das ist wirklich eine der wichtigsten Routinemaßnahmen gegen Blasen. Und es ist herrlich erfrischend, die Zehen ausstrecken und kühlen zu können. Ein kleiner Eintrag ins Buch und bald sind wir wieder im Wald verschwunden.
Für die Nacht habe ich einen Platz am Waldesrand auserkoren. Der ist aber noch geschätzte 6 Kilometer entfernt. In Wünschensuhl hatte uns ein Schild mit Duschsymbol und „Pilgerherberge“ schon fast schwach werden lassen. Die nächste offizielle Möglichkeit wäre Frauensee. Wir entscheiden uns für unser tragbares 2 – Mann – 5 – Sterne – Hotel vom Typ „Große Freiheit“. Das will aber verdient sein. Es hilft also nichts. Wir stapfen tapfer weiter. Der Wald ist wunderschön. Mal ist der Boden weich und humos und es läuft sich wie auf Wolken, dann schlürfen wir wieder genüßlich durch eine Zentimeterhohe goldbraun – grün schimmernde Masse aus herabgefallenen Laubblättern. An einer Stelle, Anja muß mal für kleine Pelegrinas, stehe ich einfach da und fühle mich wie die Goldmarie aus Frau Holle. Trotz Windstille fallen ohne Unterlass die goldenen Blätter aus den Kronen der Bäume auf mich herab. Ein erinnernswerter Moment.
Doch bald schon bricht die Dämmerung über uns herein. Es wird still. Das Gezwitscher um uns herum verstummt. Schon hören wir nur noch das rascheln und knarzen unter unseren Schuhen und ab und zu Geräusche aus dem in der Dunkelheit verschwindenden Waldesinneren. Als wir kaum noch die Hand vor Augen sehen, erreichen wir endlich den rettenden Saum des Waldes. Im Schein der Stirnlampen spannen wir auf einer kleinen, ebenen und trockenen Fläche das Zelt auf. Die hohen Fichten stehen wie ein Bollwerk hinter uns, halten uns den Rücken frei. Nach vorn ist der Blick frei und mit etwas Glück erhaschen wir morgen die ersten wärmenden Sonnenstrahlen. Nach dem Studium der Karte bestellt Anja beim Kellner „Chef surprise“. Dieser zaubert wieder ein Festmahl in die Schüsseln. Candlelight Dinner mit pulled pork aus Tromsø. So fallen die Strapazen des Tages rasch ab und machen der Eholungsphase platz. Allzu alt werden wir heut trotzdem nicht. Der Schlafsack ruft.
In der Nacht
Plötzlich schrecke ich hoch. Ein Knacken im Dickicht. Grunzgeräusche auf der Freifläche vor uns. Ein etwas leiseres Grunzen aus einer anderen Ecke des Waldes. Die Antwort folgt prompt wieder aus dem Nebel vor dem Zelt. Wie weit und durchdringend man die Laute doch wahrnimmt ist schon irgendwie packend. Da hilft es auch nichts, sich den Schlafsack über die Ohren zu ziehen. Ich luge durch den kleinen Spalt zwischen Zeltboden und Vorzelt in die weißlich wabernde Kulisse vor mir und erkenne… nichts. Die Augen taugen hier einfach nicht. Kein Zweifel, wir sind von Wildschweinen umzingelt. Eigentlich müßte ich auch dringend mal hinter die Bäume. Also fasse ich mir ein Herz und ziehe den Reißverschluß auf. Man glaubt kaum, wie laut so etwas sein kann. Als ich in die Nacht hinaus trete, der Mond klebt als milchige Scheibe am Himmel, Stille! So angestrengt ich auch starre und lausche, nichts regt sich. Jetzt bin ich auch Mutes genug, mal fix hinter den Baum zu verschwinden, um schnellstmöglich in den noch warmen Schlafsack zurück zu schlüpfen. So schnell der Schlaf ging, so schnell kommt er wieder und heißt mich erneut willkommen.
Fast noch mehr als einen filmreifen Sonnenaufgang mag ich diese windstillen, nebligen, leicht feuchten Tage. Gern bleibe ich mit offenen Augen noch im warmen Nest liegen, beobachte aus dem Zelt heraus die langsam erwachende Landschaft und fühle mich trotz der nur Zehntelmillimeter dünnen Schutzhülle unserer mobilen Heimstatt so geborgen ( Home is where you stake it ! ). Mit so wenig wie möglich Haut außerhalb des Schlafsackes wird Wasser aufgesetzt. Mein Gegenüber mag sich noch gar nicht rühren. Nur der rote Schopf guckt aus dem blauen Knäuel neben mir heraus. „Kaffee ist fertig!“ Zu frisch geholten Bäckersemmeln hat es nicht gereicht. Trotzdem genießen wir das Frühstück. Wir sind beide noch etwas verwuselt, kommen aber bald in die Gänge.
Heut soll es bis nach Vacha gehen. Das letzte Stück der letzten Etappe des ökumenischen Pilgerweges steht kurz bevor und ohne zuviel verraten zu müssen, kann ich bereits jetzt sagen: „Es war eine Freude, dich beschreiten zu dürfen!“ Ein wenig hibbelig bin ich schon, obwohl es eigentlich ja keine große Sache ist.
Wir lassen uns extra Zeit beim packen. Bald sind wir abmarschbereit. Erstmal geht es durch Wiesen, die so voller Tau hängen, daß man daraus trinken könnte. Das erstaunt mich, denn bei uns zu Hause gab es seit vielen Wochen keinen Tau mehr. Umso prickelnder, mal irgendwie naße Schuhe zu haben, statt nur immer staubige.
Gleich bei der ersten Möglichkeit schlagen wir den „falschen“ Weg ein. Dieser führt sogleich steil und dicht mit Brombeerranken versehen bergan. Wir schnaufen zweifelnd hinauf, umkehren ist aber keine Option. Da entdecke ich mitten auf dem Weg einen Pilz, zwei Handteller groß. So ein stattliches Exemplar habe ich noch nie gesehen. Zwar dient er schon wieder als Nahrungsquelle für allerlei Gewürm, aber ist trotzdem ein Riese. Das war doch den beschwerlichen Umweg wert.
Bei der Suche zurück auf den Pilgerweg tue mich ehrlich gesagt etwas schwer heute morgen. Andererseits, wir haben heute nur knapp 15 km Strecke vor uns. Ein wenig Hinauszögern kann doch da nicht schlimm sein!
Abgesehen von einem kleinen Aussichtspunkt mit Blickrichtung Vitzeroda und einer Lichtung auf der das verriegelte „Waldhaus“ steht, bewegen wir uns fast 10 km durch ein geschlossenes Waldgebiet. Auch hier hat der Sturm Schäden hinterlassen, die erst nach und nach beseitigt werden können. Kettensägengekreische und Motorengeräusche der Forstmaschinerie dringen mal von fern, mal ganz aus der Nähe auf uns ein. Beim Waldhaus pausieren wir kurz. Es ist schattig und zu frisch, um länger zu verweilen.
Um die hohe Wart, einen 400m hohen, bewaldeten Hügel, macht der Weg einen eleganten Bogen, obwohl man ihn auch in gerader Linie überschreiten könnte. Auch hier ist ein Pfad vorhanden. Im Demmesgrund entläßt uns der Forst endgültig aus seiner Obhut. Nur noch kurz genießen wir einen sandigen Wiesenweg, bis auch dieser in Asphalt übergeht. Auf einer benachbarten Weide haben die Pferde ihre Futtersuche eingestellt und beobachten uns, bis wir wieder auf Sicherheitsabstand sind. Das Wetter bleibt heut grau und verhangen. Wissend, daß wir es bald geschafft haben, sind unsere Füße nicht gerade super motiviert. Zu ereignisreich, schön, interessant, abenteuerlich, anstregend, nervenaufreibend, einfach, schwer, entzweiend und wieder vereinend waren die über 500 km. Jeder einzelne allein oder gemeinsam getane Schritt wird zur bleibenden Erinnerung.
Als wir an die Werra, jenen einst schwer bewachten Fluß, dem die unehrenvolle Aufgabe einen Teil der innerdeutschen Grenze darzustellen, aufgezwungen wurde, erreichen, wird mir die Symbolhaftigkeit dieses Ortes bewußt. Mit dem Übertritt des Flusses haben wir eine Brücke zwischen der DDR – Ost – und Westgrenze geschlagen. Wie froh können wir sein, hier, in einem friedlichen und wieder vereinten, wenn auch nicht perfekten Land leben zu dürfen. Es steht uns frei, zu gehen, wohin wir möchten. Für viele wurde der Drang in die für uns heute so selbstverständliche Freiheit so erdrückend, daß weder Leib noch Leben geschont wurden, diese zu erlangen und die Grenze zu überwinden. Heute gibt es andere Zwänge und Einschränkungen, aber wir können ohne Todesangst die Grenze überqueren!
Ein kleiner Abstecher in die offene, aber menschenleere Johanneskirche. Wir verharren einige Minuten, zünden Kerzen an und danken für den Weg.
Im Pilgerführer heißt es, wer nachweislich die Strecke gegangen ist, darf sich in der Rhön – Buchhandlung den kleinen Anstecker abholen. Wir schlendern über den Markt zur Mittagszeit. Es duftet nach Eintopf, Broiler und Wurstwaren aus dem mobilen Einkaufsladen. Als die Buchhandlung öffnet schlüpfe ich hinein und erhalte nach Vorlage meines Pilgerausweises die offizielle Bestätigung, den ökumenischen Pilgerweg geschafft zu haben. Wir plauschen noch ein ganzes Weilchen nett mit dem Inhaber. Nach vielen guten Wünschens setzen wir uns wieder in Bewegung. Dieses Mal aber führen unsere Schritte nicht zum nächsten Wegweiser, mit dem so vertraut gewordenen blau – gelben Symbol. Über 500 km konnte man sich darauf verlassen auf dem richtigen Pfad zu sein. Nun wartet die Heimreise auf uns. Aber mit einer Frage überrascht meine Frau mich noch.
Wollen wir zusammen eines Tages weiter gehen?